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Die eigene Erinnerung muss man allein tragen

Michael Arzt, Direktor HALLE 14 e.V. Leipzig
Frank Motz, Direktor ACC Galerie Weimar e.V.


Die Vorstellung des Göttlichen, Absoluten, die Annahme der Existenz eines transzendenten, personifizierten, guten Schöpfers, das menschliche Streben, sich mit einer „höheren Macht“ in Einklang zu bringen, diese zu einem Gottesbild zu verdichten, um über deren kollektive Verehrung Trost und Glück zu finden, ist so alt wie die Menschheit selbst. Wir leben in einer Welt, die tiefgreifend von Ideen und Vorstellungen des Göttlichen beeinflusst ist – und stets begleitet wird von Fragen der Theodizee, dem Zweifeln am Konzept Gott. Denn: Wenn es einen Gott gibt, wie kann er gleichzeitig gütig sein und doch soviel Leid zulassen? Warum schweigt Gott? Und was ist mit dem Glauben passiert, dem Inbegriff der Beziehung zwischen Mensch und Gott, und was mit dem Verhältnis zwischen dem Menschen als Fragendem und Gott als Antwortendem?

Auf der Suche nach Antworten (und inspiriert von der „übergeordneten, universalen Klage an Gott“ des Propheten Habakuk im Alten Testament sowie durch den einzigartigen literarischen Klassiker der Trauerarbeit „Über die Trauer“ („A Grief Observed“) des tief religiösen Literaturhistorikers, Oxford/Cambridgeprofessors und Schriftstellers C.S. Lewis über das Leiden seiner krebskranken Frau) stellte Chan Sook Choi jene, sie selbst bewegende, uralte und immer wiederkehrende Fragen des Zweifels am Glauben neu. Auf Feldforschung zur Erkundung und Untersuchung des gegenwärtigen Zustands Gottes, des Glaubens, der Religion und Spiritualität, nahm Choi – 2012 als Stipendiatin des Kunstraums HALLE 14 in Leipzig (Deutschland) – über eine Leipziger Kirchgemeinde Kontakt zu sechs Frauen auf: Alle im Alter zwischen Ende 60 bis Mitte 90, alle aus Leipzig, alle hielten unterm DDR-Regime (1949-1989), welches die Freiheit der Religion unterdrückte, unerschütterlich an ihrem Glauben fest. Dies war der Beginn von Chan Sook Chois künstlerisch wie persönlich intensiv durchlebtem, mit dem Herzen erarbeiteten Langzeit-, Recherche- und Begegnungsprojekt „FOR GOTT EN“. Über Wochen und Monate hatte Chan Sook Choi sich diesen Frauen genähert und in ihnen Interesse, Bereitschaft, Geduld, vielleicht sogar Verlangen erzeugt, sich mit ihrem eigenen Leben zu befassen. Sie hörte ihnen zu, fragte nach deren Gefühlswelt, nach Trauer, Verzweifeln, nach dem Sich-von-Gott-Vergessen-Fühlen (in schwierigen, tragischen, scheinbar aussichtslosen Momenten, bei persönlich widerfahrenem Leid oder erfahrenem Unrecht, beim Verlust einer nahe stehenden Person) wie auch nach dem eigenen Vergessen Gottes, nach dem Einsamsein und Allein-gelassenWerden, danach, wie es sich anfühlt, wenn man am Ende seines Lebens vergessen wird (und doch in Erinnerung bleiben möchte) – und selbst vieles vergisst. Im Gott-Vergessen, so Choi, schwingt die schwindende Rolle von Glauben, Religion und Christentum in säkularen Staaten mit – und dass bei gleichzeitigem „verbliebenen Interesse an Religion als sozialem Kitt, Fundament der Moral, Sinnangebot“. Jeder Einzelnen (nicht einer breiteren Öffentlichkeit) widmete Choi – basierend auf diesen Interviews – einen teils biografischen, teils assoziativen Film. Parallel dazu entwarf und baute sie einen beweglichen Ort, ein auf- und zusammenklappbares Filmvorführ-Set, eine Art HeimkinoEquipment oder Lichtspiel-Minitheater mit Videoleinwand für nur eine Person, inklusive Sitzfläche und Projektorhalterung, mit dessen Hilfe sie in der jeweiligen Wohnung jenen – sehr persönlichen – Film vor den Augen der jeweiligen Protagonistin projizierte. Ein nicht unaufwändiges Procedere.

Chois mobiles Vehikel, eine Art Rollkoffer, den sie selbst mit einer Sänfte verglich, trug den Titel „Dein Auge ist ein Fenster deines Körpers“. Die (Namens)Wahl für jene Sänfte (ein historisches Tragegestell ursprünglich gedacht zur sanften, schonenden Beförderung oder Reise von Würdenträgern) symbolisiert Chois Würdigung der Protagonistinnen ihres Kunstwerks, die gleichzeitig ihre eigenen Zuschauer waren: Hier nahmen die Frauen Platz, auf einem Stuhl aus ihrem eigenen Haushalt (nur mit ihm war die Anordnung komplett), um ihren eigenen Worten und Bildern aus der Vergangenheit zu begegnen – eine Einladung zu einer Bewegung durch die Zeit und aufeinander zu, einer Reise, auf der sie sich in ihre persönlichen Lebenserinnerungen begaben, und von der Vergangenheit ins Heute getragen wurden. Chois Kamera dokumentierte, die Gesichter der Frauen und ihre Reaktionen auf den ihnen gezeigten Film festhaltend, den Prozess der Erinnerung. In aller Ruhe, gemach, begegneten sich in diesem Gestell, quasi dem Bildrahmen (der Sänfte) Person und Kamera wie auch Person und Leinwand/Projektion. Der hölzerne Aufbau vereinigte auch fremdartigen und bekannten Raum mit dem Raum der Begegnung.

waren Sequenzen von unbeschreiblich emotionaler Energie. Die Frauen erzählten von Krieg und Flucht, von Konzentrationslagern und vom Kommunismus, von der deutsch-deutschen Teilung und der Friedlichen Revolution. Gesichter alter Menschen (hier filmisch abgetastet) sind für Chan Sook Choi wie eine physiognomische Landschaft, in der sich immerfort das Leben einschreibt – es sind wahre Geschichtsspeicher. „Je älter ein Mensch wird, desto eigentümlicher wird sein Gesicht ( … ) Auf der Oberfläche der atmenden Haut graben sich von außen her Einprägungen ein oder tauchen von innen her auf. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen auf dieser Oberfläche. Sie wird durch die Videoaufnahmen in ein lebendes Bild, ein Porträt, gesetzt, das erzählt, was Sprache allein nicht auszudrücken vermag oder was unausgesprochen bleibt“, so Choi.

Unser Körper zeichnet alles auf, schneidet alles mit, was uns widerfährt. Dem Gesicht kommt eine zentrale Schlüsselfunktion beim „Einlesen“ eines Menschen zu. Die Frauen erfuhren etwas von dem, was in ihren Gesichtern geschrieben stand, von dort reflektiert wurde. Aber auch die Künstlerin selbst und andere Betrachter des Kunstwerks lasen in den Gesichtern der Frauen, konnten beobachten und sich erzählen lassen, aus ihrem Leben lernen und – woran es Chan Chook Choi stets gelegen ist – die unsichtbaren Energien einer menschlichen Seele bewusst, sichtbar, durch das die Mixed-Media-Installation flankierende Buch, welches den Projektwerdegang dokumentiert und durch weitere Perspektiven vervollständigt, sogar tastbar erfahren. Chan Sook Choi schuf also ein mobiliares System, eine kleine Welt, in deren engem Rahmen sich die Greisinnen entfalten, mit sich selbst auseinandersetzen konnten, auch ohne die Künstlerin (die beim Dreh nicht hinter der Kamera stand) – persönliche Ansprache und Wiederkehr der Künstlerin, ihre Für- und Seelsorge, Widmung und Würdigung ließen Distanzen und Hemmschwellen einschmelzen, die eine zunächst fremde und fremd wirkende nämlich fremdländisch aussehende, nicht akzentfrei deutsch sprechende und schon gar nicht sächselnde Koreanerin ausstrahlte.

Aus den mitgeschnittenen Emotionen und Reaktionen der Frauen angesichts der parallel projizierten, persönlichen Geschichten entstand ein Spiegelbild, ein Parallelporträt jeder einzelnen Interviewpartnerin als zeitbasiertes Dokument der (Re)aktivierung von Erinnerungen, die bei schwindenden Kräften und zunehmender Einsamkeit wohl unvermittelter denn je zurückkehren. Das Alleinsein, durch Krankheit, Verlust von Partnern und Freunden, die Trauer des Abschiednehmens und Zurückbleibens, die Entkopplung vom Berufsleben, ist im Alter präsenter, schränkt den Aktionsradius ein. Unhinterfragtes wird fragwürdig, nicht gestellte Fragen bleiben unbeantwortet, vielleicht werden einem bestimmte Dinge erst jetzt richtig klar, wird man „endlich kapiern, worum sich alles dreht“ (Ludwig Hirsch).

Etwas überaus Einfühlsames, Andächtiges, Feierliches steckt in diesen Filmporträts. Choi verdichtet die Frauenschicksale auch räumlich, verleiht ihnen etwas Überzeitliches, Allgemeingültiges, lässt Mimik, Gesichtsfurchen und ergraute Haare statt Anekdoten sprechen. Jede Beobachtung eine weitere Ode an das Alter, an die Bewältigung des Lebens und die Frage der jungen an die greise Generation – voller Anerkennung, Hochachtung, Bewunderung: Wie habt Ihr das gemacht, all das ausgehalten, die Strapazen, das Leid, von dem Euer Leben und von dem nun Eure Gesichter gezeichnet sind, deren Innehalten und Schweigen allein schon immens ausstrahlt? Woher nahmt Ihr die Unerschütterlichkeit Eures Glaubens, das Gottvertrauen als Lebensborn, um schwierige Situationen zu überstehen, den eigenen Lebensweg zu gestalten und ihn nicht einfach zu verlassen?

Hinzu kommen, bei längerer Betrachtung, die aufschlussreichen, mitreißenden, heilsamen Aussagen, Erkenntnisse, Maxime der Erzählenden (Reagierenden): „Gott leidet im Menschen mit“, „Wo wäre die Grenze, wenn Gott Leid nicht zuließe?“, „Leid ist eine Folge der Freiheit“, „Das, was man an Gebeten gelernt hat oder auch an Liedern, das kann einem nicht genommen werden. Das ist immer da“, „Die eigene Erinnerung muss man allein tragen“, „Also, den Himmel habe ich ja schon auf Erden erlebt. Ein schöner feierlicher Gottesdienst, ein schönes Konzert, ein schöner Vortrag, also ein Stück Himmel erlebst du schon auch auf der Erde“, bis hin zum so profanen wie existenziellen „Es ist schade, Fragen nicht gestellt zu haben“. Chan Sook Chois bildkünstlerische Zeugnisse gehen dabei an die Substanz: Man spürt das grund(an)ständige Anliegen ihrer Betrachtungen, die Spiegelung des Eigenen in der Beobachtung des Anderen, die Warmherzigkeit und Nähe, Ernsthaftigkeit und Direktheit, Bescheidenheit und Rücksichtnahme, Persönlichkeit und Intensität ihrer künstlerischen Klaviatur.