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Das digitale Leben aus kosmologischen Perspektiven

by Yuk Hui
Philosopher



Die Arbeit Yin Yang Su Wha von Chan Sook Choi ist eine Einladung über die Beziehung zwischen unserem digitalen Leben und
der antiken asiatischen Kosmologie nach- zudenken. Diese Einladung verweist auf eine historische Perspektive, nämlich das Zwei- zahlensystem von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716), welches der Philosoph im Dialog mit einem alten chinesischen Schreib- system entwickelte. Für Leibniz war das Zeichensystem von I Ging das früheste Schreibsystem Chinas, und er meinte darin ein perfekteres Zeichensystem als das damalige gebräuchliche chinesische Schreib- system zu entdecken; ein Zeichensystem, dass wir heute als Charactaristica Universalis kennen. Leibniz ist vielleicht der früheste Denker des Digitalen: Er hat nicht nur das Zweizahlensystem begründet, seine „beste aller möglichen Welten“-Hypothese ist auch ein Prinzip der Algorithmischen Informations-

theorie. Chan Sook Choi geht es um einen Dialog zwischen europäischem und chinesi- schem Denken. Die Künstlerin hat ihrer Arbeit den Titel Yin Yang Su Wha gegeben und die fünf Elemente oder Bewegungen für ihr Werk adoptiert. Diese sind grundlegend für die traditionelle chinesische Kosmologie: Aber kann die chinesische Kosmologie auf einen Algorithmus reduziert werden? Oder zwingt uns das Zeitalter des Digitalen sogar dazu, die Kosmologie neu zu denken?

Die digitale Technologie hat unsere Gesellschaft verwandelt, gleichzeitig erleben wir eine Vollendung des technologischen Systems, die sich in der Totalisierung von Netzwerken, Automatisierung, big data und künstlicher Intelligenz abzeichnet. Der fran- zösische Philosoph Jacques Ellul hat diesen Prozess schon vor mehr als 30 Jahren in seinem Buch Le système technicien (1977) beschrieben, und ich habe in meiner Arbeit On the Existence of Digital Objects (2016) versucht ihn weiter zu denken. Heute können wir dieses sich vollendende technologische System mit dem Anthropozän gleichsetzen. In diesem Weltbild ist der Kosmos nicht mehr das geheimnisvolle Außen der Erde, sondern wird selbst als ein technologisches System wahrgenommen: Kosmologie ist Astrophysik geworden. In meinem Buch The Question Concerning Technology in China an Essay in Cosmotechnics (2017) habe ich daher vor- geschlagen, nach Heidegger die Frage der Technik wieder zu zulassen. Im 20. Jahrhun- dert ist die Technikphilosophie in den Gren- zen des Denkens Heideggers geblieben. Der Philosoph hat uns zwei Begriffe der Technik überliefert. Erstens, Technê im altgriechi- schen Sinne, das heißt poiesis oder Hervor- bringen; Zweitens, moderne Technik oder Technologie, die aus der europäischen Modernität kommt. Das Wesen der modernen

Technik ist nicht mehr poetisch oder hervor- bringend, sondern was Heidegger das Gestell nennt. Alles Seiende wird bestellbar oder als Bestand wahrgenommen. Digita- lisierung ist eine Weiterentwicklung der modernen Technik, in dem Sinne, in dem Heidegger konstatierte, dass Kybernetik die Abendländische Metaphysik vollendet habe. Sofort stehen wir damit vor dem Problem, dass wir mit beiden Begriffen die Technik anderer Kulturen nicht erklären können. Die chinesische Technik oder die afrikanische Technik waren eben keine griechische Tech- nik, da ihre Technik von anderen Kosmo- logien geprägt ist. Wir müssen uns somit von einem anthropologischen Universalismus distanzieren, um die Frage nach der Technik neu zu denken. Entsprechend habe ich den Begriff Kosmotechnik entwickelt, den ich vorläufig als die Vereinigung der kosmischen Ordnung und der moralischen Ordnung durch technische Handlungen definieren möchte. Damit können wir die Weltgeschichte der Technik neu beschreiben.

Chan Sook Choi lädt uns auch deshalb ein, die Kosmologie zu entdecken, da sie sich in Yin Yang Su Wha vom Begriff Qi begeistert zeigt. Qi, in der Medizin oft übersetzt als Energie, bedeutet auch Gas und ist ein Be- griff, den man schon beim klassischen Taoisten Zhuangzi finden kann. Der Begriff wurde im Neokonfuzianismus des 11. Jahr- hunderts weiterentwickelt, vor allem durch die Arbeit des Philosophen Zhang Zai (1020– 1077). Die Bemühungen des Neokonfuzia- nismus gelten der Rekonstruktion einer moralischen Kosmologie gegen den sittlichen Verfall und die politische Korruption. In der Vorstellung von Zhang Zai sind Wasser und Feuer zwei grundlegende Elemente, die aus Qi bestehen. Verschiedene Kombinationen von Qi ergeben drei weitere „Bewegungen“:

Holz, Metall und Erde. Die Wandelbarkeit von Qi erlaubt einen Austausch zwischen „zehntausend Dingen“. Die moralische Kos- mologie des Neokonfuzianismus propa-
giert ein anderes Prinzip der Technik. Das macht ein Blick in die Enzyklopädie der Tech- nik in China, Tian Gong Kai Wu von Sung Yingsing (1587-1666), klar, die hundert Jahre vor der Französischen Enzyklopädie von Denis Diderot und Jean le Rond d’Alembert erschien. In diesem Buch werden verschie- dene Techniken wie Agrikultur oder Metallur- gie gezeigt und erklärt. Die Enzyklopädie stützt sich dabei auf die Naturphilosophie von Zhang Zai, in der Qi fundamental für das technische Denken ist., im Gegensatz zur Französischen Enzyklopädie, in der man jene scharfe Trennung zwischen Technik und Natur sehen kann, die seit dem 18. Jahrhun- dert in Europa soweit getrieben wurde, dass das Bild von der Natur als einer von Technik vergewaltigten Mutter entstehen konnte.

Die Modernisierung in Asien in den vergangenen hundert Jahren ist eine techno- logische Modernisierung gewesen. Dieser Prozess hat zum Verschwinden der Kosmo- technik geführt. Moderne Technik ist der einzige Antrieb der ökonomischen und sozia- len Entwicklung. Was kann da die Rolle der Kosmologie sein? Anthropologen wie Phillipe Descola oder Eduardo Viveiros de Castro haben versucht zu zeigen, dass wir einen Multinaturalismus mehr als einen Multikultu- ralismus brauchen. Und hier bedeutet Multi- naturalismus die Notwendigkeit eine Varietät der Kosmologien zu erkennen.

Es scheint mir, um die Diversität der Kosmotechnik wie- der zu entdecken, sollten wir die Einladung Chan Sook Chois annehmen, über die spek- takuläre Vorstellung von Yin Yang Su Wha auf der Wand des Humboldtforums hinaus eine Beziehung zwischen dem digitalen Leben und der verlorenen Kosmologie zu denken.