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Im Raum gibt es keine absoluten Richtungen mehr. Das Universum hat seinen Kern verloren. Es hat nicht länger ein Herz, sondern tausend Herzen.
Arthur Kostler, Die Nachtwandler
Dr. Britta Schmitz
Leutende Kuratorin der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof-Museum für Gegenwart.
Im Raum gibt es keine absoluten Richtungen mehr. Das Universum hat seinen Kern verloren. Es hat nicht länger ein Herz, sondern tausend Herzen.
Arthur Kostler, Die Nachtwandler
Dr. Britta Schmitz
Leutende Kuratorin der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof-Museum für Gegenwart.
Chan Sook Choi bewegt sich mit ihrer Arbeit zwischen Performance, Installation, Video, Fotografie und verwendet manchmal auch Kombinationen, die dann zu etwas wie einem abschließenden Dokument oder dem Ergebnis einer Aktion führen. Die Verschmelzung ihrer interdisziplinären Projekte mit Musik und Ton, Tanz und Bewegungen, Zeit und Raum ist eine Einladung verlorene Erinnerungen wieder hervorzuholen und dem Verschwinden fragile Räume zu eröffnen. Es ist das In-Szene setzen eines Welt-blicks, in dem sich verfügbare und unverfügbare Bilder zu einem Reigen verbinden, die ihre Kraft aus den Momenten des Rätsels und der Ungewissheit gewinnen. In Private Collection von 2007 sind es große Projektionen von Gesichtern auf einer Bühne, denen das gelebte Leben eingeschrieben ist, deren Geschichten uns aber für immer verborgen bleiben. Große, luftgefüllte Plastiksäcke umschließen die Gesichter und bilden eine zweite Haut, die wie ein zarter Schleier Schutz vor zu großer Nähe bietet und die persönlichen Geheimnisse gewissermaßen einschließt. Der Zuschauer bleibt nur mit seinen eigenen Geschichten und Erinnerungen konfrontiert, die auftauchen und verschwinden. Die Tänzer agieren langsam und kommunizieren scheinbar mit dem projizierten Gegenüber. Sie erzeugen eine traumhaft, schwebende Stimmung, deren meditative Ruhe einen deutlichen Kontrast zu den Berührungen und Bewegungen mit der Folie bildet, die die Bilder verzerrt, zu geisterhaften Erscheinungen mutieren lässt, die wie im Traum da sind und versinken. So entstehen Bilder aus einer Welt, die ihren Mittelpunkt für Sekunden verloren hat und Chan Sook Choi erweist sich als eine Künstlerin die gleichermaßen perfektionistisch wie emotional fasziniert nach den Momenten sucht, an denen die rationale Verfügbarkeit über das Bild erlischt. Dabei geht es nie um ein wolkig
sentimentales Ungefähr. Im Gegenteil: Alle Arbeiten zeichnen sich durch eine große inhaltliche Genauigkeit und fast skrupulös zu nennende Präzision aus. Chan Sook Choi schafft in ihren Performances stets einen Ort des Geschehens. Das heißt, einen Erfahrungsort, an dem die Betrachter einen produktiven Austausch eingehen. Sie schafft Orte und visuelle Situationen, an denen multiple Lebensräume auf neue Art sichtbar werden und so den Betrachter zu einem Erforscher, einem “Erkunder” werden lassen, der in der Gemeinschaft den individuellen Bezug zur Welt in der wir leben, zu verstehen lernt. Aber die Künstlerin gibt mit ihrem Werk auch ein machtvolles Bekenntnis zu der einzigartigen Macht der Bilder und ihrer Fähigkeit aus dem Sehen das Ungesehene entstehen zu lassen.
Das emotionale Plädoyer für eine Bildwelt des Außer-Ordentlichen, NichtVorhersehbaren wird deutlich in der Drei-Kanal Videoprojektion von 2010 Parallel Portrait. Die Koordinaten von Raum und Zeit haben hier ihre Evidenz verloren. Der sorgfältig komponierte, beinahe surreale Kosmos zeigt drei Personen in verschiedenen Raum- und Zeitebenen, die durch den Klanghintergrund in eine imaginäre Verbindung treten. Die Grunddisposition der Arbeit ist gezielt in einer atmosphärischen Schwebe und evoziert eine undefinierte Stimmung. Die von der Künstlerin selbst verfassten Sätze, unterstreichen den schmalen Grat zwischen dem gesicherten Bild und dem irrealen Set. Unsere auf Normalität und linearen Zusammenhang gerichtete Wahrnehmung wird erschüttert und es ist hier das zu erfahren, was Martin Buber, der deutsche Philosoph, als das Zwischen bezeichnet hat - das, was zur Verbindung von Dingen, zur Verknüpfung von Räumen mit Situationen, von Situationen mit Themen notwendig macht. Das Thema der Erinnerungspraxis des Einzelnen und der damit verbundenen Identitätskonstruktion wird in der wichtigen Arbeit 1218 (2008) eindrücklich in ein Werk umgesetzt. Der Zahlencode des Titels ist im Bewusstsein der Künstlerin Jahre lang tief verborgen gewesen. Dreizehn Jahre nach dem Tod der eigenen Mutter konnte sie die zentrale Erfahrung in einem Werk zulassen.
In Korea wird der Monat vor den Tag gesetzt und so ist der 18. Dezember stets ein denkwürdiger Tag in jedem Jahr seit 1990. In 1218 hat der Tod die Bedeutung von Beziehung. Beziehung zwischen meiner Mutter und mir. Toter und Lebender. 1218 ist die Bemühung diese Beziehung zu verstehen. So drückt Chan Sook Choi es selbst im Prolog zum Werk aus. Die großen Veränderungen in ihrem Leben waren wie ein großes Geheimnis in ihr eingeschlossen und die verdeckten Bilder konnten erst später in eine bildliche und körperliche Sprache übersetzt werden. Ihre visuellen Vorstellungen wurden in Gemeinschaft mit Tänzern, Choreographen, Komponisten, Kostümbildnern u.v.m. umgesetzt. Alle zum Werk gehörenden Elemente beziehen sich auf die Ziffern 1218 und verknüpfen diese zeitliche Einschränkung als Grundlage der gesamten Arbeit. Das Video dauert 12 Minuten 18 Sekunden, auch die Belichtungen der fotografischen Arbeiten unterliegen diesem Limit. 1218 verbindet in einem experimentellen Prozess die Bedeutung von Beziehung, von Erinnerung und Vermittlung. Die in Korea noch heute lebendige Trauer Tradition, zu der Schamanen bestimmt Zeremonien praktizieren, die den Weg des Toten ebnen und Kontakt zu den Hinterbliebenen herstellen gehört als zentrales Erfahrungsmoment zum gesamten Werk. Mit der Arbeit werden nicht nur unterschiedliche Kunstformen miteinander in Beziehung gebracht auch Kulturen, Genres und Epochen verdichten sich zu einem Ganzen. Es gehört zu den Stärken dieser Arbeit, dass es ein emotionales Plädoyer ist für eine Bildwelt des Außer-Ordentlichen, Nicht- Vorhersehbaren. Es wirkt wie der Sprung der Bilder ins Offene, ins Ungesicherte der Erinnerungen und das komplexe Werk wird zum Bild im kulturellen Sinne. In diesem Zusammenhang steht auch die Arbeit FOR GOTT EN, 2012 als fünf Kanal Videoprojektion aufgeführt. Sie entstand in Leipzig als Rechercheprojekt über das Vergessen werden. Dazu hat die Künstlerin Frauen, die in der ehemaligen DDR lebten und nun im Alter zwischen 70 und 90 Jahren sind, besucht und gefilmt.
Es sind zumeist heitere, freundliche Personen, die sich nicht mehr an einfachste Dinge wie Zählen oder Liedertexte erinnern können. Unabhängig von den Befunden der Frauen, kommen bei der Betrachtung der Videoarbeit sogleich Fragen auf. Zum Beispiel die Frage, was es eigentlich heißt, sich an nichts mehr erinnern zu können? Wie fühlt es sich an, wenn die Dinge verschwinden, wenn sich Sachen nicht mehr benennen lassen, weil sich die Namen von ihnen abgelöst haben? Menschen, denen die Welt auf diese Weise abhandenkommt, können selten darüber berichten. Wir wissen nicht wie es sich anfühlt. Sie vergessen Worte und Gegenstände anders als wir. Wir wissen was wir vergessen haben und können die Lücken benennen. Die Menschen verfügen über keine Identität, weil das Wo und Wann abhandengekommen ist und aktuelle Ereignisse in kein vorhandenes Raster eingefügt werden können. Persönliche Erinnerungen konstituieren unsere Identität. Sie ermöglichen zu verstehen, was und wer wir sind. Verunsichert wird diese Selbstvergewisserung durch den Verlust sich zu erinnern. Für diese Unheimlichkeit und Unsicherheit des modernen Individuums plötzlich nicht mehr als stabile Person in Erscheinung treten zu können, hat Chan Sook Choi mit FOR GOTT EN ein Werk geschaffen, das unsere Aufmerksamkeit auf das Individuum lenkt und hat dem Vergessen einen Raum gegeben mit dem wir über die Verortung des Selbst in der Wirklichkeit nachdenken sollten.
Dr. Britta Schmitz
Britta Schmitz ist leitende Kuratorin der Nationalgalerie im Hamburger BahnhofMuseum für Gegenwart. Zuständig für Kunst nach 1960 mit dem Schwerpunkt internationale und globale Konzepte. Sie ist eine erfahrene Ausstellungskuratorin und hat zahlreiche Ausstellungen ausgerichtet und dazu Publikationen verfasst und herausgegeben. Auswahl der Künstler und Themen die zu ihrem Schwerpunkt gehören: Gerhard Richter, Sigmar Polke, Pipilotti Rist, Stefan Balkenhol, Cy Twombly, Lucian Freud, Parastou Farouhar, Dayanita Singh, Ayse Erkmen, Face Up. Junge Kunst aus Australien, Shirin Neshat, Atlas Group/Walid Raad, Paul Pfeiffer, Who Knows Tomorrow, Künstler aus Afrika, Walton Ford, Martin Kippenberger, Tomas Saraceno, Gottfried Lindauer. Sie ist gewähltes und aktives Mitglied in zahlreichen internationalen Gremien und Jurys.